Wow, jetzt geht RAW also jede Woche über 3 Stunden! Bleibt also nur noch mehr Zeit, die größten Mankel und Fehler der Promotion offen darzulegen und zu demonstrieren, was man gegenüber früher falsch macht. Ich möchte hier einmal schrittweise darlegen, welche großen Fehler mich wirklich, wirklich stören.
Auch die drei Stunden von RAW werden nicht sinnvoll gefüllt, um den Charaktern Tiefe zu geben
Fangen wir doch mal beim am wenigsten gravierenden Punkt an, zumal hier ausnahmsweise Besserung in Sicht scheint. WWE hat es in der letzten Zeit viel zu selten geschafft, den eigenen Charakteren ein wirkliches Gimmick zu geben. Ich rede jetzt nicht von Leuten wie Cena oder Big Show, die seit Jahrzehnten im Geschäft sind und sich allein über die Aufdrucke auf ihren T-Shirts definieren. Was für ein Gimmick haben Tyler Reks und Curt Hawkins? Was für ein Gimmick hat Alex Riley? Wieso vermöbelt Ryback alles und jeden und weshalb tritt Sheamus prinzipiell jedem gegen den Kopf?
Ich will hier gar nicht den Fehler machen und die ähnlichen Looks der Wrestler kritisieren. Es gibt halt nicht viel mehr Möglichkeiten als lange oder kurze Hose. Was mir fehlt ist Charaktertiefe und daraus ergeben sich dann auch ausbleibende Publikumsreaktionen. Damien Sandow bspw. hat nicht einmal halb so viele Matches bestritten wie Ryback und im Gegensatz zu dem auch mal verloren - erzeugt aber dennoch wesentlich mehr Reaktionen beim Publikum als das Powerhouse. Warum? Ganz simpel: Sandow hat ein Gimmick, wurde über Wochen dem Publikum näher gebracht und durfte reden, was das Zeug hält. Er gibt dem Publikum Gründe, ihn zu mögen oder zu hassen. Er hat Kanten, Ecken, einfach ein Profil und ist für mich damit aktuell der wohl beste Charakter in der Company. Warum soll ich Ryback bejubeln? Weil er gewinnt?
Dies ist jedoch der am wenigstens gravierende Punkt, da man bei diesem RAW damit begann, solche Umstände zu bessern. Ryback durfte während seines Einmarschs einen überraschend guten Einspieler hinlegen und auch Sheamus hat nicht sinnlos Leute getreten, sondern ein Auto geklaut. Moment mal, er hat ein Auto geklaut?
Jedes Babyface in der WWE wird zu einem unglaubwürdigen Comedy-Charakter
Ich weiß, es gibt Ausnahmen und damit stimmt der obige Satz nicht mehr genau. Randy Orton ist bspw. eine dieser Ausnahmen, und das weil er gefühlt der einzige Face-Charakter ist, der so etwas wie Härte und Authentizität verkörpert. Wenn ich mir dagegen ansehe, wie Sheamus grinsend und Brust-klopfend durch die Arenen läuft, immer gut drauf und bereit mit Fans zu lachen, dann bekomme ich zuviel.
Gestern hat man also versucht, Sheamus durch einen Autoklau etwas Profil zu verschaffen. Er rächt sich spitzbübig an dem arroganten del Rio, der ihn wegen seiner Herkunft beleidigt hat, nachdem Sekunden vorher ein BE.A.STAR-Clip mit eben jenem Sheamus über die Mattscheibe flimmerte. Das ist natürlich eine per se löbliche Charakterentwicklung, da er ausnahmsweise mal nicht nur sinnlos durch die Gegend trat. Allerdings ist das eine Richtung, in die sich das Produkt m.E. nicht entwickeln sollte. Klar hat auch ein Steve Austin als Face schon zweifelhafte und illegale Aktionen fabriziert, um sich am Tyrannen Vince zu rächen. Und zweifelsfrei sind genau das die Szenen, die wir in der heutigen Weichspül-WWE vermissen. Aber: Stone Cold war weder Teil einer Anti-Bullying-Campaign noch ein ewig grinsender Pausenkasper. Stone Cold Steve Austin war ein knüppelharter Wrestler, der seine Rache- und Revancheaktionen aus guten Gründen und mit der gebotenen Ernsthaftigkeit verkaufte, welche sie legitimierten.
Wenn Sheamus 2012 ein Auto klaut, verkauft es Jerry Lawler als positive Aktion, während Sheamus lustige Videos auf der Motorhaube dreht und das Gefährt nachher fast unversehrt lachend zurückbringt. Wenn Stone Cold früher ein Auto geklaut hätte, wäre es im nächstbesten Fluss gelandet, um dem Bösewicht einen echten Schaden zuzufügen, ohne dass Austin dabei breit grinsend durch das Bild gehüpft wäre. Wenn John Cena 2012 seinem Vorgesetzten John Laurinaitis die gute BBQ-Sauce von JR über den Kopf kippt, steht er lachend obenauf daneben und reißt dumme Witze, während Stone Cold bei seiner Bierdusche für McMahon und Rocky damals einen PPV verkauft hat, da er sich - nach Wochen der Tyrannei und hinterhältiger Aktionen - endlich zur Wehr setzt.
Austin musste dies tun, da seine Gegner gleichwertig bis übermächtig waren. Er brauchte damals derartige illegale Aktionen, um sich für zahlreiche Schikanen gegen ihn zu revanchieren. Er war nicht, wie heutzutage Cena, Sheamus oder gefühlt jedes einzelne Babyface, in einer überlegenen Position, die er dann auch noch weiter ausgenutzt hat. Und er hat damit nicht unterhalten wollen, er wollte schockieren. Was legitimiert den Autoklau von Sheamus? Dass del Rio ihm sagte, er stamme aus niederen Verhältnissen (was bei den Gimmicks sogar der Wahrheit entspricht)? Eine einmalige Attacke mit der Motorhaube, die jetzt schon fast zwei Monate (!) zurückliegt und wöchentlich wiederholt werden muss? Ist Sheamus gegenüber del Rio, der gestern übrigens als einziger Heel (!) sein Match gewinnen durfte, wirklich so unterlegen und verzweifelt, dass er zu einer solchen Illegalität greifen muss? Klipp und klar nein, Sheamus ist, ähnlich wie alle anderen Faces, in der gesamten Fehde obenauf und setzt sich daher auf Wegen zur Wehr, die moralisch für ein Face mehr als zweifelhaft sind. Was uns zum Hauptproblem führt.
Vertauschte Rollen: Faces sind Heels, Heels sind Faces
Ein vielschichtiges Problem, dass sich nicht nur in bullyhaftem Verhalten von Face-Charakteren widerspiegelt. Erinnern wir uns zurück an den letzten PPV der WWE, so wird als Moment des Abends ganz sicher der Koffergewinn eines Dolph Ziggler genannt. Warum? Weil die Fans in der Halle es geliebt und gefeiert haben. Doch Moment, ist Ziggler nicht einer von den bösen? Sollten ihn die Leute nicht ausbuhen und ihm die Pest an den Hals wünschen? Warum bekommt er dann solche Reaktionen?
Ganz simpel: Er ist (neben einem unfassbar guten Wrestler) ein Underdog. Dolph Ziggler hat seine Reaktionen von der klassischsten aller Zuneigungen gezogen. Nach Wochen voller Niederlagen und Rückschlägen gegen große, kräftige Gegner durfte er eeendlich triumphieren und alle Hindernisse beseitigen. Dolph Ziggler durchlebte allerklassischstes Face-Booking. Warum war Zack Ryder teilweise unfassbar hot? Weil er immer wieder von Ziggler verprügelt wurde, kein Land sah und der kleine Long Island Underdog war. Sein Titelgewinn war so ein toller Moment, weil er es nach einer gefühlten Ewigkeit eeendlich über den übermächtigen Gegner triumphieren durfte. Wieso wurde Daniel Bryans Titelgewinn so frenetisch gefeiert? Weil Sowohl Henry als aauch Big Show für den kleinen Veganer unüberwindbare Hindernisse dargestellt haben, die er durch einen glücklichen Zufall doch überwinden konnte. Weshalb ist Heath Slater trotz Heel-Status einer der aktuellen Lieblinge des Cyboards? Weil er der Underdog ist, von quasi jedem Rentner der WWE verdroschen wurde.
Wie sieht jedoch das Booking der Top-Faces aktuell aus? Müssen John Cena oder Sheamus irgendjemanden fürchten? Werden ihre jeweiligen Gegner souverän, gefährlich oder gar dominant dargestellt? Wird einem abschließenden Sieg in einer wochenlangen Fehde wirklich entgegengefiebert, weil sie ihre Tyrannen dann eeendlich besiegen können? Absolut nicht. John Cena und Sheamus gewinnen jedes ihrer Matches clean, es gibt in der gesamten Company keinen bedrohlichen oder dominanten Heel, der für einen der beiden auch nur die geringste Gefahr darstellen könnte. Warum ist das so? Weil nicht mal jene Heels, die nicht in Programmen stecken, ihr Standing durch klare und aggressive Siege steigern dürfen. Der dominante Part der Fehde fällt eigentlich immer dem Face zu, sodass das Interesse an der Konfrontation automatisch gen null sinkt. Warum sollte ich mir ansehen, ob Sheamus beim SummerSlam über Alberto del Rio triumphiert, wenn er ihn doch schon jede Woche vorführen darf?
Die vielzitierte Internet-Wrestling-Community feiert fast durchgängig die Heels der Company. Nicht nur, weil sie die vermeintlich besseren Performer sind, sondern eben auch, weil sie die wahren Faces wurden. Wenn Daniel Bryan Woche für Woche von einer rachsüchtigen GM mit übermächtigen Gegnern konfrontiert würde, wünsche ich mir doch schon fast automatisch, dass Bryan am Ende siegreich aus der Konfrontation hervorgeht. Wenn Dolph Ziggler wochenlang den Job für Leute wie Brodus Clay machen muss, ist es für mich doch - allein wegen seines Talents - am Ende nur erfreulich, wenn er den Koffer bei Money in the Bank gewinnt.
WWE betreibt damit ein Booking, das äußert kontraproduktiv ist. Immer häufiger bekommen Heels gute, positive Reaktionen während Faces ausgebuht werden. Ihre Dominanz langweilt und regt nicht dazu an, für sie zu jubeln. Bis auf die Fans des FC Bayern will ja auch keiner, dass der FC Bayern erneut Deutscher Meister wird. Man fiebert automatisch mit dem Underdog und WWE verpasst es, die Faces als Underdogs und Heels gleichzeitig als Bedrohung darzustellen. Man opfert das langfristige Zuschauerinteresse an der Konfrontation immer häufiger dem momentanen Feel-Good-Moment. Niemand bezahlt für einen PPV, wenn das Face schon seit Wochen obenauf ist und der Sieg nur noch Formsache scheint, zumal der Underdog eh der Bösewicht ist, den man nicht gewinnen sehen will.